Donnerstag, 27. September 2012

Sebastian Fitzek & Michael Tsokos: "Abgeschnitten"

Gestern erschien der neue Thriller von Sebastian Fitzek, „Abgeschnitten“, den er zusammen mit Michael Tsokos, Professor für Rechtsmedizin und neben Mark Benecke wohl einer der bekanntesten Pathologen Deutschlands, verfasst hat. Sebastian Fitzek ist für mich ein „Wellen-Autor“: mal finde ich eines seiner Bücher total genial und mal bin ich von seinem Werk enttäuscht („Splitter“ hat mir persönlich beispielsweise gar nicht gefallen), aber lesen tu ich alles von ihm.

Michael Tsokos ist mir vor Allem als moderierender Experte von „Suche nach Mr. X – Das Forensik-Experiment“ bekannt, was ich immer ganz gerne schaue und was der Grund ist, warum ich Michael Tsokos vor Allem mit Sätzen in Verbindung bringe wie: „Ich bin gespannt, was die amerikanischen Kollegen dieses Mal erleben werden.“

Wie gesagt: gestern erschien „Abgeschnitten“, gestern Abend habe ich es auf meinen Kindle gepackt und kurz nach Mitternacht doch schonmal anlesen (wollen). Als ich mit Anlesen fertig war, hatte ich das Buch ausgelesen. Offensichtlich: es ist ein Buch von „oben auf den Wellen“; immerhin hat es mich vom Schlafen abgehalten.


„Abgeschnitten“: eine morbid-perfide Schnitzeljagd


Linda ist eine junge Comiczeichnerin, deren Ex-Freund sich als psychopathischer Schläger herausgestellt hat. Ihr bulliger, selten gesetzeskonform agierender, Bruder hat sie zu ihrem Schutz nach Helgoland geschickt, während er sich um ihren Ex „kümmern“ wollte. Helgoland wird kurz nach Lindas Ankunft aufgrund eines Orkans komplett von der Aussenwelt abgeschnitten: eigentlich sollte sich Linda in Sicherheit wiegen, zumal ihr Bruder ihr auch versichert, ihr Ex-Freund stelle absolut kein Problem mehr da, was eigentlich nur einen Schluss zulässt… Dennoch fühlt sich Linda auch auf Helgoland weiterhin beobachtet und verfolgt. Dann entdeckt sie am Strand auch noch eine Leiche…

Professor Paul Herzfeld arbeitet als Rechtsmediziner in Berlin: im Kopf einer Leiche entdeckt er eine Kapsel mit einem kleinen Zettel. Auf diesem Zettel steht der Name seiner Tochter sowie eine Telefonnummer: als er jene anruft, gerät er an eine Mailbox, auf die seine Tochter eine verzweifelte Nachricht gesprochen hat. Sie sei entführt worden und er dürfe auf keinen Fall die Polizei benachrichtigen, sonst müsse sie sterben. Bald würde sich ein gewisser „Erik“ mit weiteren Infos bei ihm melden.

In der Zwischenzeit hat Linda die Leiche zwar Leiche sein lassen, aber in einer Tasche, die der Tote bei sich trug, nach Hinweisen auf seine Identität gesucht. Doch bis auf ein Handy, in welchem nur eine Nummer gespeichert ist, hat sie nichts gefunden. Da ruft sie doch einfach mal an: bei der einzigen Telefonnummer, die sie bei der Leiche, auf deren T-Shirt der Name „Erik“ prangt – und erreicht prompt Paul Herzfeld.
Dieser vermutet sogleich, dass auch in dieser Leiche irgendwo ein Hinweis versteckt ist, der ihn bei der Suche nach seiner Tochter voranbringt. Aber: Helgoland ist aufgrund des Wetters unerreichbar; niemand kommt dorthin, niemand kommt von dort weg und Herzfelds Tochter Hannah befindet sich in akuter Lebensgefahr.
Die Zeit rennt Herzfeld davon: also überredet er Linda, für ihn die Obduktion durchzuführen. Linda, Vegetarierin, absoluter Laie, muss nun also eine Leiche sezieren. Und „Erik“ bleibt nicht die einzige Leiche: während Herzfeld sich mit einem augenscheinlich snobistischen und tollpatschigem Praktikanten irgendwie nach Helgoland durchzuschlagen versucht, versucht er gleichzeitig eine Verbindung zwischen sich, seiner Tochter und den eigens für ihn präparierten Toten herzustellen, und findet dabei noch mehr Leichen…

Wo besteht der Zusammenhang und wo ist Pauls Tochter? Schafft er es, sie zu finden und kann er sie noch retten oder ist die ganze Suche aussichtslos?

„Abgeschnitten“ – Latti hat`s gelesen!


Der Fitzek/Tsokos-Thriller wird durch ein Video eingeleitet, welches einen Prolog noch vor dem Prolog darstellt. Hier wird die Vorgeschichte von Linda und ihrem Ex aufgegriffen: mein kleiner, knuddeliger Kindle ist zu doof, um ein Video darzustellen. Für solche Fälle ist aber auch eine Domain angegeben, unter welcher das Video abgerufen werden kann: tja, mein Internet ist zu doof, um diese Domain aufzurufen. Zumindest wird mir beim Abruf der genannten URL mitgeteilt, dass es diese Internetseite nicht gibt?! Ob man bei Droemer-Knaur, dem herausgebenden Verlag, etwa vergessen hat, diese bestimmte Domäne passend zum Erscheinungstermin freizugeben – oder hat man etwa einen dummen Druckfehler eingebaut?

Nach kurzer Google-Suche habe ich das Video dann aber auch im droemerischen YouTube-Account gefunden, et voilà:


Letzte Nacht las ich „Abgeschnitten“ aber, ohne mir das Prä-Prolog-Video angesehen zu haben: funktioniert auch! ;) Man muss das Video nicht zwingend gesehen haben, um das Buch zu verstehen.

Jedes Kapitel wird in diesem Fall übrigens noch mit einem sehr atmosphärischen Bild eingeleitet: hier gibt’s also mal für einen Thriller noch ungewöhnlich viel zum Anschauen.

Und für den Kindle gibt es gar eine XXL-Leseprobe, die man sich gratis bei Amazon herunterladen kann: jene soll wohl die ersten sechs oder sieben Kapitel (insgesamt gibt es übrigens 67 Kapitel) enthalten. Wer sich nicht sicher ist, ob ihm hier story und Schreibstil zusagen, kann „Abgeschnitten“ vor dem eventuellen Kauf recht weit kostenlos anlesen.

Der gedruckte Prolog hat mich sehr lange Zeit irritiert: das, was dort passierte, konnte ich der Handlung sehr lange nicht zuordnen und geriet doch schwer ins Grübeln, wo denn nun der Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und der „Leichen-Schnitzeljagd“ bestand. Das habe ich auch erst verstanden, als ich schon ziemlich am Ende des Thrillers angekommen war – und die Autoren mich quasi mit dem Holzhammer auf die Auflösung gestossen hatten.

Nach einem Drittel des Buches wurde die Verbindung zwischen Paul Herzfeld und den präparierten Leichen bereits aufgedeckt. Aber was nun unspannend klingt (Auflösung bereits nach einem Drittel des Romans), brachte „Abgeschnitten“ erst richtig in Schwung: denn nun wurde einem bewusst, warum sich Hannah nun in welcher Gefahr befinden sollte… Prinzipiell gab es zwar drei Erzählstränge: einmal wurde berichtet, wie es Linda auf Helgoland erging, dann wurde von Herzfelds Aktivitäten auf dem Festland berichtet und dann gab es noch einen dritten Part, in dem ein Mädchen, welches offensichtlich Hannah zu sein schien, gefangen gehalten und gefoltert wurde. Der letzte Part war ziemlich anonym gehalten, sehr düster und einfach erschreckend und schockierend; mal feuerte ich Herzfeld an („Finde sie, rette das Mädchen!“) und mal dachte ich: „Wenn sie das überlebt: wie soll sie das jemals verarbeiten; sie wird doch niemals damit fertigwerden können!?“ Jener Erzählstrang verstärkte die Dramatik und liess die gesamte Handlung von „Abgeschnitten“ noch sehr viel emotionaler wirken.

Ohnehin muss man für „Abgeschnitten“ starke Nerven haben: Sebastian Fitzek hat diesen Roman zusammen mit Michael Tsokos geschrieben. Wenn man eine Protagonistin ohne jedwede Ahnung eine Obduktion nach einer telefonischen Anleitung durchführen lässt, klingt das schon sehr nach blutigem Gemetzel. Zieht man beim Schreiben aber einen echten Experten hinzu, der die forensische Arbeit zweifelsohne liebt, wird die telefonische Anleitung sehr detailliert und teils auch blumig („wie beim Filetieren“), aber vor Allem wird es für schwache Nerven einfach „iiiiiiiiiiiiih“, wenn Linda dann auch noch Bericht erstatten muss, was sie so alles sieht und was sie beim Aufschneiden findet, nachdem sie diverse Hautlappen auseinandergebogen hat.

Wie gesagt: obschon man zumindest den ungefähren Hintergrund bereits nach dem ersten Drittel der Geschichte kennt, wird es ab hier nicht nur immer „forensisch-extremer“, sondern doch auch noch spannender. Es scheint nämlich so als würden sämtliche Menschen, die Herzfeld zu Hannah führen könnten, sterben und als würde sich die Spur zu Hannah irgendwo verlaufen. Zudem wird immer klarer, dass es sich hier nicht nur um einen Einzeltäter handeln kann, sondern dass mehrere Personen an der „herzfeldschen Schnitzeljagd“ beteiligt sein müssen: aber wer und warum – diese Zusammenhänge werden erst nach und nach entschlüsselt…. Sprich: man weiss nach dem ersten gelesenen Drittel, warum diese ganze Chose veranstaltet wird, aber bis auf einen Täter kennt man die „Organisatoren“ noch nicht.

Ich konnte „Abgeschnitten“ wirklich nicht aus den Händen legen, zwei oder drei Mal dachte ich während des Lesens: „Latti, lies es morgen weiter! Du musst jetzt schlafen!“ Aber ich wusste: bevor ich nicht die komplette Geschichte kennen würde, könnte ich nicht einschlafen. Ich musste es einfach auslesen.
Allerdings fand ich das Ende dann doch etwas doof: auch hier gab es wieder einen überraschenden Showdown und ich hasse solche Enden. Ich mag es, wenn Bücher genauso enden wie ich es auch bei Liedern mag: nicht mit einem finalen Trommelwirbeln, sondern wenn sie ganz langsam leiser werden und die Musik nach und nach abebbt. Im Falle von „Abgeschnitten“ ist es so, dass sich der endgültige Tathergang erst beim letzten Paukenschlag komplett aufklärt, aber für mich war dieser Showdown auf Helgoland einfach zu dramatisch.
Es gab zwar noch einen Epilog, den man als „leises Abebben“ verstehen könnte, der mich aber auch nicht so recht überzeugen konnte: nach dem ganzen Drama gings hier plötzlich so nüchtern-sachlich zu, was für mich einfach nicht passte.

Was mich ansonsten nervt: Polemik. Vor Beginn des Buches und auch im Anschluss an die Handlung findet man kurze Zeitungsartikel, die über Prozesse berichten: einmal werden dort Gerichtsurteile bezüglich Sexualdelikte und einmal Urteile in Bezug auf Steuerhinterziehung und solche Sachen erwähnt; quasi das übliche „Kinderschänder kriegen ein Jahr auf Bewährung und die, die den Staat um ne Million bescheissen, werden für 10 Jahre eingebuchtet.“ Ich hasse diese Phrasen, weil darin immer ein Hauch von Vorwurf mitschwingt vonwegen „Der Richter in dem Missbrauchsprozess hatte auch noch Mitleid mit dem Arschloch; gut, dass der nicht aus dem vom Steuerprozess geraten ist: das ist nämlich in knallharter Hund, der hätte ihn lebenslang eingebuchtet.“ Aber kaum jemand denkt mal daran, dass das Problem hier nicht hinter dem Richtertisch sitzt, sondern in der Gesetzgebung liegt. Mich nervt das wirklich, wenn nach Sexualprozessen mit einem milden Urteil alle „aber die Steuerhinterzieher, die werden jahrelang eingebuchtet!“ brüllen, aber niemand eine Gesetzesänderung fordert: Mindest- und Maximalstrafen sind nämlich in der deutschen Gesetzgebung verankert.
Ich denke, „Abgeschnitten“ eignet sich aufgrund seiner Thematik letztlich sehr gut, um zu diskutieren, inwiefern Resozialisierung von Triebtätern bzw. Mördern überhaupt möglich ist etc., aber diese Hinweise, dass Steuerbetrug teils stärker als Sexualmord geahndet wird, finde ich einfach unnütz. An den Stellen hätte ich lieber Hinweise auf Opferschutzverbände gesehen bzw. auf Petitionen, mit denen eine Gesetzesänderung bezüglich der Anhebung der Strafmasse für Sexualdelikte angestrebt wird, gesehen. Also weniger Polemik, mehr Engagement!

Zudem: ich lebe ja nun als Deutsche in der Schweiz. In den vergangenen Monaten habe ich festgestellt, dass Diejenigen, die den Klau-Kauf von Daten-CDs, um Steuersünder aufzuspüren, gutheissen („In den Kerker mit ihm; er hat unser Land um drei Millionen betrogen!“), oftmals dieselben Leute sind, die Sexualdelikte behandelnden Strafprozessen wiederum rufen: „Nur zwei Jahre auf Bewährung! Dabei muss XY, der unser Land nur um drei Millionen € Steuern geprellt hat, für vier Jahre in den Knast!“ Verrückte Welt.

Ich habe „Abgeschnitten“ von Fitzek und Tsokos nun weniger gelesen als vielmehr eingesogen, aber das Ende sowie das Steuergefaselgeldbetrüger-Vergleichsdrumherum haben mich nun nicht sonderlich für sich eingenommen; grossartig fand ich nun aber die multimediale Vernetzung: eine XXL-Leseprobe gratis, ein Prolog-Video noch vor dem geschriebenen Prolog, die Fotos zum Einläuten der einzelnen Kapitel, den zweideutigen Titel, das Forensik-Bilderlexikon am Schluss. Am Ende des Buches findet man nämlich auch noch Fotos diverser forensischer Untersuchungswerkzeuge, inklusive Erläuterungen, wozu Pathologen genau dieses oder jenes Ding eigentlich benötigen.

Und dann noch die „Danksagung“: hier gibt’s keine Danksagung. Hier gibt’s einen pathologischen Untersuchungsbericht, „Befund: ausgelesen“, etc.pp – das war richtig genial!

Ich schmeisse mit 9 von 10 Rauschmitteln um mich! 


Buch-Info

„Abgeschnitten“, Sebastian Fitzek & Michael Tsokos / Droemer-Knaur / ISBN-10: 3426199262 / ISBN-13: 978-3426199268 / 400 Seiten / 19,99€ (gebundenes Buch) / ebook-Preis: 17,99€
Preise (vom 27.09.2012) in der Schweiz: ex libris – CHF 23,10 (Printbuch) / Thalia – CHF 28,90 (Printbuch) / Weltbild – CHF 28,50 (Printbuch); CHF 27,20 (ebook)

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