Montag, 21. Januar 2013

Sabine Thiesler: "Bewusstlos"

[Bücher-ABC 2013] „Bewusstlos“ von Sabine Thiesler ist ein Roman, auf dessen Erscheinen am 14. Jänner ich mich schon seit einigen Wochen gefreut habe: Sabine Thiesler ist für mich eine der deutschen Autorinnen, die für spannende Unterhaltung stehen – und ich lasse mich gerne (gut) unterhalten.



„Bewusstlos“ – blutiges Erwachen…


Raffael ist ein junger Mann Ende 20, der schon seit Jahren keinen Kontakt zu seinen Eltern mehr hat: durchs Leben schlägt er sich mehr oder minder mit Aushilfsjob; aktuell arbeitet er als Techniker an einem Berliner Theater. Unterschlupf hat er bei einer lieben, älteren Dame gefunden, die ihm ein Zimmer in ihrer für sie zu gross gewordenen Wohnung untervermietet hat…
Doch Raffael ist unberechenbar, was auch seiner Vermieterin immer deutlicher wird: er neigt zu extremen Stimmungsschwankungen, zu Wutausbrüchen, auf die unmittelbar die beste Laune folgt. Und Raffael ist gefährlich: so wacht er morgens mit blutverschmierten Klamotten, aber unverletzt auf, und kann sich an nichts mehr erinnern… Als er zufällig bemerkt, dass seine Vermieterin sehr viel Geld in der Wohnung verwahrt, wird er teuflisch…

Zudem entdeckt er via Internet, dass seine Eltern inzwischen einen Gastbetrieb in der Toskana führen und seine Wut wird immer grösser: denn fühlte er sich immer schon von seinen Eltern im Stich gelassen, hat er nun erst recht das Gefühl, dass sie fortgegangen sind, ohne an ihn zu denken.
Und so bricht er auf in die Toskana…. Wo er sich auch schon bald unverletzt, blutverschmiert und erinnerungslos wiederfindet.

„Bewusstlos“: Latti hat`s gelesen!


Der Roman beginnt mit Christine, Raffaels Mutter, die einem vom Gericht bestellten Psychiater von ihrem früheren Familienleben erzählt, von der Zeit bis zum „Bruch“ mit Raffael: dem Leser wird hier bereits klar gemacht, dass „Bewusstlos“ auf ein sehr tragisches Ende zulaufen wird, nicht zuletzt eben dadurch, dass Christine sich eben auf Geheiss eines Gerichts mit diesem Mediziner unterhält.
Nachdem Christine ihren „Bericht“ über Raffaels Kindheit beendet hat, ist man sich zudem klar, dass Raffael schwer traumatisiert ist, bevor die Perspektive wechselt: nun ist man bei Raffael in Berlin; bei seiner Vermieterin, die einen Untermieter suchte und ihn in Raffael gefunden hat… Als Leser begleitet man Raffael quasi von seinem Einzug bis zu seiner Reise zu den Eltern in die Toskana.

Der Klappentext von „Bewusstlos“ klingt nun sehr dramatisch und hochgradig spannend: dort wird nur darauf hingewiesen, dass Raffael morgens voller Blut erwacht, an sich keine Verletzungen feststellt, und absolut kein Erinnerungsvermögen daran besitzt, was zuvor geschehen ist, wo das Blut herkommt. Diese Kurzbeschreibung klang für mich zunächst danach als sei der Leser hier quasi ständig an Raffael Seite und würde mit ihm gemeinsam nach und nach aufdecken, was der blutige Hintergrund ist. Pustekuchen: als Leser weiss man immer Bescheid; man weiss, was geschehen ist, wessen Blut an Raffael klebt – und wie gemeingefährlich Raffael ist.
Für den Leser ist „Bewusstlos“ also wenig überraschend: manchmal fliessen noch weitere tragische Details aus Raffaels Kindheit und Jugend ein (Dinge, die Christine nicht wusste und von daher anfangs auch nicht erzählen konnte), die noch für etwas mehr Dramatik sorgen und bewirken, dass man Raffael nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer, sieht.

Insgesamt ist „Bewusstlos“ aber eher mit einem Rennen gen Abgrund zu vergleichen: hier besteht die Spannung letztlich darin, dass man als Leser wissen möchte, ob vor dem Abgrund gestoppt werden kann oder nicht und wer letztlich eventuell noch alles mit hinuntergerissen wird. Dass Raffael verloren ist, bleibt während des gesamten Romans offensichtlich: für mich war schon sehr früh klar, dass Raffael entweder geschnappt (gestoppt) wird und ins Gefängnis oder noch wahrscheinlicher die Psychiatrie kommt oder aber dass alles mit dem Tod enden würde.
Hierin lag dann auch die Spannung versteckt, denn anfangs lernt man lediglich eine Frau kennen, die von einem längst zurückliegenden Familienleben erzählt: man weiss also während des Lesens, dass Christine in jedem Fall überlebt hat, aber man weiss bis zuletzt nicht, was aus den anderen Familienmitgliedern geworden ist. Lebt Raffaels Vater noch, hat er seiner kleinen Schwester etwas angetan, lebt Raffael noch, sitzt er ein, ist er womöglich geflohen…? Dass Raffael letztlich eventuell auch hätte fliehen können, lag natürlich auch noch in der Leseluft: allerdings habe ich persönlich nun keinen Gedanken daran verschwendet, dass er davonkommen könnte – zu drastisch wurde er geschildert, zu brutal und unberechenbar; ich wollte einfach nicht daran denken, dass man ihn hätte davonkommen lassen müssen.   

„Bewusstlos“ ist ein sehr dunkler Roman; Raffael ist von Wut und Depressionen durchwirkt, aber auch die interessanteste Figur im gesamten Roman, der man, je mehr man aus seiner Vergangenheit erfuhr, doch auch mit immer mehr Verständnis begegnete. Christine, seine Mutter, hingegen blieb eine eher farblose, vom Leben gezeichnete Frau, die sich auch ihrem Mann gegenüber sehr unterwürfig verhielt. Karl, Raffaels Vater, hingegen besass eine sehr unangenehme Dominanz: man meinte zu erkennen, dass Christine ohne ihn sehr viel mehr Stärke zeigen könnte und fragte sich ständig, warum Christine eigentlich an ihrem Mann festhielt. Das Verhältnis der Beiden zueinander erinnerte dann doch mehr an eine freundschaftlich geprägte Zweckgemeinschaft als an seit Jahrzehnten miteinander verbundene Eheleute. Insgesamt fand ich Raffael nun nicht nur die mit Abstand interessanteste Figur in „Bewusstlos“, sondern ich habe seit Langem von keiner so vielschichtigen, zwiegespaltenen Hauptfigur gelesen. Wer sich gerne psychologisch betätigt, dem wird hier zweifelsohne sehr viel zum Beobachten und Analysieren geboten!

Ich habe den Roman (den ich mir auf zwei Abende aufgeteilt habe) sicherlich sehr gerne gelesen und auch die erwartete gute Unterhaltung geboten bekommen, aber ich habe an „Bewusstlos“ doch auch noch das ein oder andere Detail auszusetzen: das Romanende war mir zu sehr Holzhammer-Methode. Der Schluss hatte für mich tatsächlich etwas von „ich muss das jetzt unbedingt ganz schnell zu Ende bringen“; es war tatsächlich wie der Abgrund, auf den ungebremst zugerast wird: abgestürzt und aus. 

Sabine Thiesler lässt die Figuren ihrer Geschichten bekanntlich gerne in die Toskana abwandern (wobei man sagen muss, dass hier doch ein erstaunlich grosser Teil der Geschichte in Deutschland spielt) und natürlich stösst man auch hier wieder auf den altbekannten italienischen Polizisten Neri, den ich eigentlich ganz gerne mag und dessen italienische Familiengeschichten immer etwas Auflockerung bieten. Allmählich ist es mir aber doch zuviel Neri: da ist dieser arme Polizist nun in der toskanischen Einöde und stösst dort ständig (also in jedem Thiesler-Buch) auf deutsche Einwanderer, die (Serien)Mörder im Schlepptau haben. Dass muss dem doch allmählich auch seltsam vorkommen?!

In „Bewusstlos“ störte mich aber ein Berliner Hausmeister noch viel mehr: dieser geht dort den Anordnungen des Hausbesitzers bzw. des Vermieters nach und wird von Raffael aufgefordert, sich diesen Anordnungen zu widersetzen bzw. das genaue Gegenteil zu tun. In diesem Zusammenhang prügelt Raffael den Hausmeister letztlich grün und blau und der kommt kurz darauf wieder und tut all das, was er von Raffael aufgetragen bekommen hat?! Über diese Stelle komme ich einfach nicht hinweg: warum hat er nicht die Polizei informiert, warum nicht den Vermieter, wieso ist er tatsächlich wiedergekommen, um Raffaels „Wünschen“ Folge zu leisten? Wer lässt sich denn derart vermöbeln, um später die Kellerlampe seines Peinigers zu reparieren? Ich gebe zu: das Verhalten dieses Hausmeisters hat mich doch sehr irritiert und erschien mir so seltsam, dass ich diese kurze Episode auch weiterhin beim Lesen nicht vergessen konnte und sie im Verlauf der weiteren Handlung zudem noch so ein „Hätte der Idiot da doch einfach mal den Mund aufgemacht, dann wäre es jetzt erst gar nicht so weit gekommen“-Gschmäckle bekam.
Hätte man den Hausmeister herausgestrichen und das Ende noch etwas mehr entzerrt, würde mich Sabine Thieslers „Bewusstlos“ restlos begeistert haben. Wer einen Thriller mit einem facettenreichen, psychologischen Hintergrund sucht, ist hier aber nichtsdestotrotz bestens bedient.

Für mich ergeben sich aus „Bewusstlos“

8 von 10 Rauschmitteln.


Buch-Info

„Bewusstlos“, Sabine Thiesler / Verlag: Heyne / ISBN-10: 3453268067 / ISBN-13: 978-3453268067 / 512 Seiten / 19,99€ (gebundene Ausgabe) / ebook-Preis: 15,99€
Preise (vom 21.01.2013) in der Schweiz: ex libris – CHF 22,80 (gebunden); CHF 13,25 (ebook) / Thalia – CHF 28,50 (gebunden); CHF 19,40 (ebook) / Weltbild – CHF 28,50 (gebunden); CHF 19,90 (ebook)

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